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Vom Leben durch ein Milchglasfenster

Der Wecker läutet, halb sieben. Du stellst ihn ab, Erinnerung in 10 Minuten. Du drehst Dich um. Drei Schritte sind es bis zum Kasten, fünf bis zum Badezimmer. Du kannst die Tür vom Bett aus sehen. Der weiße Lack ist abgeblättert. Das Farbengeschäft ist nur 20 Minuten entfernt. Zweimal umsteigen, einmal die Strasse überqueren. Du malst gerne. Du magst den Geruch von Lack. Drei Stationen mit der U-Bahn, eine mit der Bim. Du musst Dich anziehen. Der Wecker läutet. Du kannst den Kasten vom Bett aus sehen.

Das schaffst Du nie.

Denk an was Schönes, hat die Mutter früher beim Zahnarzt gesagt. Du kannst Dich an das Bohren erinnern, den bitteren Geschmack im Mund. Nicht an das Schöne. Nicht an den Schmerz. Über allem liegt ein Graufilm. Eine schmutzige Milchglasscheibe. Nichts ist klar. Nichts kommt durch. Kein Lachen, keine Wut. Du bist traurig und das ständig. Ein dumpfer Schmerz. Du kannst ihn nicht beschreiben. Er ist nicht wie in einem Songtext. Sondern unpathetisch. Unmythisch. Einfach da. Immer, wenn es Dir nicht gut geht.

Die Mutter darf nichts wissen. Sie soll sich nicht schlecht fühlen. Das hast Du von mir, sagt sie sonst. In ihrer Familie hatten es alle. Tante Mia, Onkel Hermann, der echte Großvater. Du hast sie nicht mehr gekannt. Du glaubst nicht dran, dass sich Dämonen vererben. Du bist aus dieser Phase rausgewachsen. In der man den Eltern das eigene Leben umhängt. Davon wird nichts besser.

Das Telefon läutet. Du brauchst eine Ausrede. Dir fällt keine ein. Du hebst ab. Du klingst wie die Synchronstimme aus einer Serie, die nachts unbemerkt an Dir vorbei flimmert. Schrill, fröhlich, schnell. Ausgezeichnet, sagst Du. Geht sich aus. Du hörst Dich selbst aus dem Nebenzimmer. Obwohl Du hier liegst. Du staunst über Deine Reflexe. Wie gut Du sie trainiert hast. Wenn Du sprichst, dann laut. Du bist witzig. Manchmal exaltiert. Du hast viele Bekannte und noch mehr Ideen. Du sprühst, sagen die anderen. Du brennst ab, sagt der Mensch, der Dich liebt. Er weiß wie sehr es Dich anstrengt. Er weiß, dass es immer ein sowohl als auch ist. Dass die Lebhaftigkeit die Traurigkeit nicht ausschließt. Dass auf einen Abend voller Lachen zwei Tage Dunkelheit folgen können.

Du legst auf und druckst fünf Seiten aus. Der Drucker ist langsam. Zeile für Zeile. Das dauert. Und laut ist es auch. Du legst Dich wieder hin. Du ziehst die Decke über die Ohren. Dort bleibt sie.

Auf Facebook gibt es Urlaubsfotos. Sonne, Strand, schöne Kinder. Irgendwer hat einen Preis gewonnen. Schon wieder. Du gratulierst. Irgendwer hat geheiratet. Du schreibst eifrig Kleiner Drei. Irgendwer hat sein Essen fotografiert. Du hast keinen Hunger. Lauter fröhliche Menschen, schön, verliebt, auf Reisen. Erfolgreich. Du hast Dich noch nicht mal angezogen. Drei Schritte bis zum Kasten, fünf bis zum Badezimmer. Du weißt nicht mehr, wann es angefangen hat. Ein paar Jahre lang war es besser. Letzten Sommer hast Du geglaubt, es ist weg. Verschwunden für immer. Du ärgerst Dich, dass es wieder gekommen ist. Du fühlst Dich getäuscht von Dir selbst.

Dein Psychiater sieht aus wie Richard Branson. Er würde sich auf einem Delphin gut machen. Im Unterhemd, hinter ihm ein Regenbogen. Oder als Pirat in einem Musical. Er wirkt wie jemand, der sich selten schämt. Er stellt viele Fragen. Er lächelt viel. Du magst ihn. Du bekommst Cipralex. Schon wieder.

Im Job bist Du hinten nach. Es fällt auf. Dann glänzt Du wieder, hast eine Idee nach der anderen. Gerade als Du sie ausführen sollst, zieht es Dir den Boden unter den Füßen weg. Dir fehlt der Zug zum Tor, sagt ein Kollege. Du lebst Dich so schwer, eine  Verwandte. Reiß Dich zusammen, sagt eine Bekannte. Du hast einen Traumjob, sagt Dein Chef. Du weißt nicht, was Du tun sollst. Du willst nicht müde sein. Du machst Dir jeden Abend Salat. Die beste Freundin sagt, das ist gut für Dich. Das erfrischt. Du schläfst über der Schüssel ein.

Richard Branson gibt Dir Ixel. Die Cipralex waren vielleicht die falschen. Man muss sich Zeit geben, sagt er. Es dauert bis der Spiegel erreicht ist. Du vertraust ihm. Auch wenn die ersten Wochen mühsam sind.

Du hast wieder gute Tage. Du stellst den Wecker morgens noch immer zurück. Aber Du stehst auf. Du gehst Druckerpatronen kaufen. Du schaffst es sogar ins Farbengeschäft. Zweimal umsteigen, einmal die Straße überqueren. Du hüpfst aus der Straßenbahn. Du magst das Gefühl. Du spürst Dich gerne. Du läufst ein Stück des Heimwegs. Du glaubst, Du kannst alles schaffen.

Drei Tage später ist sie wieder da. Du spürst es schon beim Aufwachen. Die Müdigkeit. Die Traurigkeit. Die Starre. Du atmest ein, Du atmest aus. Du machst den Wecker und das Handy aus. Du musst Geduld haben, hat Richard Branson gesagt. Du musst nicht funktionieren. Fünf Schritte sind es bis zum Badezimmer. Du kannst die Tür vom Bett aus sehen. Sieben Schritte sind es bis zur Abstellkammer. Du hast den Lack darin gebunkert. Für heute hast Du einen Plan.

 

 

13 Kommentare zu “Graufilm

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  2. Danke. vielen Dank. Für´s mitteilen. Für´s öffentlich machen. Für´s in Worte fassen wofür man eigentlich keine Worte finden kann.

    • Hier kann ich bedingungslos unterschreiben, das hätte ich nicht besser in Worte fassen können. Danke an beide, die Schreiberin des Textes Graufilm und den Kommentator weddingliebhaber.

      Doris

  3. Wärmende Worte, haben beschrieben was vielen bestimmt schwer fällt zu beschreiben.
    Danke dafür.

  4. Pingback: Hashtag #NotJustSad zu Depressionen: "Wenn du meinst zu ertrinken, während alle um dich atmen können" | Deutschland Gesundheit

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