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Mia konnte auf drei Kanälen gleichzeitig kommunizieren. Sie konnte drei Tage ohne Schlaf auskommen. Sie konnte sich um ihre drei Mitarbeiter genauso gut kümmern wie um ihr Kind. Sie dachte, sie sei unbesiegbar. Sie hat sich geirrt.

„Schon seltsam“, sagt Mia und zieht sich ihren Schal zurecht. „Es ist echt schon Weihnachten.“ Sie sitzt in der Straßenbahn, die den Ring entlangfährt. Draußen zieht der Rathauspark vorbei, festlich dekoriert. Der Christkindlmarkt, die Stände, Kinder, die Zuckerwatte essen. Mia heißt nicht Mia, aber sie findet den Namen schön. Wenn jemand einen Text über sie schreibt, in dem sie anonym bleibt und deshalb einen anderen Namen für sie auswählen muss, würde sie gerne so heißen.

Mia sieht aus wie eine Frau, die man aus dem Schwimmbecken gezogen hat, weil sie zu lange unter Wasser war. Weil sie beim Tauchen übersehen hat, dass ihr die Luft ausgeht. Weil sie vergessen hat, dass ihr Körper nicht unverwundbar ist. Und nun wiederbelebt, trockengerieben und in warme Decken gehüllt am Beckerand sitzt und um sich blickt. Verstört, verwundert, neugierig auf die Welt an Land. So sieht sie nun aus dem Fenster und ihre großen dunkelbraunen Augen betrachten erstaunt das Treiben auf der Straße, als würde sie es zum ersten Mal sehen.

Ein Handy klingelt im Waggon. Mia rührt sich nicht. Ihres kann es nicht sein. Ihres liegt ausgeschaltet in ihrer Tasche. Es war das Erste, was die neue Mia der alten Mia nach ihrem Zusammenbruch beigebracht hat. Das Handy auszuschalten. Nicht auf Lautlos, nicht auf Vibrieren zu stellen. Sondern es abzudrehen. Nicht bei jedem Schritt aufs Display zu starren. Zu scrollen, zu tippen, Mia konnte SMS schreiben während sie Auto fuhr. Beim Wickeln ihrer Tochter. Während sie duschte. Sie konnte auf drei Kanälen gleichzeitig kommunizieren. Facebook, Mails, WhatsApp. Eine erfolgreiche Unternehmerin, ein Postergirl der Workaholics. Jung, dynamisch, durchtrainert. Immer in Eile. Immer am Checken. Immer unter Strom. Die Agentur ist wie Mia und Mia ist wie die Agentur.

Sie hat die Jahreszeiten um sich nur mehr am Rande wahrgenommen. Wenn eine Schneeflocke aufs Display gefallen ist. Oder ein Regentropfen. Oder wenn der Schweiß beim Telefonieren das Smartphone glitschig gemacht hat. Oder der Wind ihre Worte weggetragen. Und sie die Hand beim Sprechen schützend vorhalten musste. Jeden Abend Nackenschmerzen, weil ihr Hals schon ganz krumm war. Jetzt ragt er gerade in die Höhe. Ihr Kopf ist leicht zur Seite gebeugt. Sie blickt aus dem Fenster. Auf die Markstände. Auf das Treiben auf der Straße. Auf die Menschen mit Einkaufstaschen unterm Arm. „Echt schon Weihnachten“, wiederholt sie und klingt noch immer erstaunt.

100 Stunden pro Woche hat sie am Schluss gearbeitet. 4 bis 5 Stunden pro Nacht geschlafen, höchstens. 80 Zigaretten pro Tag geraucht, 6 Espressi getrunken und ebenso viele Gläser Wein am Abend. Manchmal auch mehr. Wenn sie einen neuen Kunden an Land gezogen hat. Oder einen neuen Mitarbeiter einstellen konnte. Drei waren es am Ende. Drei Vollzeitstellen. Drei Menschen, für die sie Verantwortung trug. Mia hat eine dreijährige Tochter, die sie allein aufzieht. Sie kennt das Gefühl, für jemand mitzudenken. Sie nimmt ihre Pflichten sehr ernst. Sie hat keinen Unterschied gemacht zwischen den Verpflichtungen als Mutter und jenen als Chefin. „Ich hab das so empfunden, als wären die drei so wichtig wie mein Kind. Das war ein Fehler“, sagt sie und runzelt die Stirn.

Mia war immer selbstständig. Fixe Arbeitszeiten und Vorgaben, jemand, der ihr sagt, was zu tun ist, das war nichts für sie. „Mein Chef war immer ich“, sagt sie bestimmt. Und: „Ich war ein guter Chef. Nur nicht für mich.“ Mia ist keine große Frau, vielleicht 1 Meter 55 groß, drahtig und sehr zart. „Am Schluß waren es 42 Kilo“, sagt sie. „Aber es wird schon wieder mehr.“ Sie fährt sich durch ihre schwarzen Haare, bis in den Nacken. Sie greift ins Leere. „Sie waren früher länger“, sagt sie entschuldigend. Sie hat die Haare nach ihrem Zusammenbruch abgeschnitten. Sie hatte das Gefühl, als wären die langen Haare zu schwer. Als wäre der Knoten im Nacken, zu dem sie die schwarzen Locken gebunden hatte, ein Gewicht, das sie nach hinten zog. Das ihr zusätzlich auf die Seele drückte. Das sie nicht mehr tragen konnte, weil ihr die Kraft dafür fehlte.

Einmal sieht sie abends fern. Ein Störgeräusch zieht sich durch die Nachrichten. Ein leises, hohes Pfeifen. Mia macht den Fernseher aus. Das Geräusch bleibt in ihrem rechten Ohr. Sie geht zum Arzt. Sie bekommt Tabletten, von denen ihr schwindlig wird. Sie nimmt sie nicht weiter. Sie gewöhnt sich an das Pfeifen.

Mia steigt aus der Straßenbahn und schlendert in den ersten Bezirk. Auch das musste sie erst lernen. Langsam zu gehen. Einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ganz bewusst. Nicht rennen, nicht hetzen, nicht laufen. Sondern gehen. Links, rechts, links. Einatmen, ausatmen. Einmal ist sie morgens aufgewacht und ihr ganzer linker Arm war taub. Bis in die Fingerspitzen, kein Gefühl. Sie konnte die Hand nicht bewegen. „Da hab ich gedacht: Das ist er jetzt, der Herzinfarkt.“ Trotzdem bringt sie erst ihre Tochter in den Kindergarten und geht noch zu einem Geschäftstermin, einem Frühstück mit einem Kunden, bevor sie ins Krankenhaus fährt. „Ich hab halt keinen Kaffee getrunken, weil ich gedacht hab, das ist schlecht fürs Herz.“ Im Krankenhaus machen sie ein EKG. Unauffällig. Aber ihr Puls rast. Ihr Blutdruck ist zu hoch. „Haben Sie viel Stress?“, fragt der Arzt. Mia schüttelt den Kopf. Im Wartezimmer der Ambulanz hat sie vier Mails beantwortet. Nachdem sie den Befund bekommen hat – Nackenverspannung – und die Überweisung in ein physiotherapeutisches Institut, wird sie auf dem Weg zur U-Bahn noch sieben SMS schreiben. Mia hat keinen Stress. Sie macht ihre Arbeit gerne. Ihre Arbeit macht ihr Spaß. Sie macht nur das, was sich ausgeht. Aber es geht sich immer alles aus. „Wenn ich die Augen offen hab, kann ich denken. Wenn ich denken kann und eine Hand frei hab, kann ich schreiben.“ Solche Sätze hat Mia früher vor sich hin gesagt. Glaubenssätze, hat ihre Therapeutin sie genannt. Falsche Glaubenssätze. Weil das Fühlen nicht in ihnen vorkommt.

Ein paar Wochen nachdem sie im Krankenhaus war, hat Mia einen besonders schweren Tag. Das Pfeifen in ihrem Ohr ist am Morgen besonders laut. Ihre Tochter ist krank. Ihre Mutter verspätet sich zum Babysitten. Mia geht nervös im Vorzimmer auf und ab. Die Kleine hustet laut. Mia sorgt sich. Sie hat einen wichtigen Termin mit einem Kunden. Als ihre Mutter endlich kommt, läuft sie los. Sie hat einen metallischen Geschmack im Mund. Sie nimmt einen Kaugummi aus der Tasche. Aber der Geschmack bleibt. Sie tritt auf die Straße vor ihrem Wohnhaus. Die Häuser sehen anders aus als sonst. Sie sind höher, näher. Als würden sie sich auf Mia zubewegen. Mia blinzelt, ihr Herz klopft laut. Sie schließt kurz die Augen, öffnet sie wieder. Die Häuser sehen noch immer seltsam aus. Das Pfeifen in ihrem Ohr wird immer lauter. Mia hat Angst. Ihre Hände werden feucht. Sie fürchtet sich plötzlich vor den Häusern, vor den Autos auf der Straße, vor den Menschen, die ihr am Gehsteig entgegenkommen. An der Ecke vor der Bäckerei, in der sie jeden Morgen ihren Kornspitz kauft, sackt sie in sich zusammen. Sie setzt sich auf den Randstein und hält sich daran fest. Sie ruft ihre Mutter an. „Mama, hol mich ab. Mir geht’s nicht gut.“

Mia mag den Ausdruck „Burn-out“ nicht. Sie hat ihn zu oft gehört und gelesen. Er ist ihr zu unpräzise. Ein Begriff, den man allem überstülpt, das man nicht genau benennen kann. Ein Begriff, den niemand ernst nimmt. Der jetzt ein wenig in Mode ist. So wie „Homöopathie“, „Granderwasser“ oder „Feng Shui.“ Mia sagt lieber, sie hat Erschöpfungszustände. Sie hat seit zwei Monaten fast nicht gearbeitet. Sie hat die Agentur einstweilen ihrer Stellvertreterin übergeben. Sie weiß nicht, ob sie je zurückkehren wird.

Nach dem Zusammenbruch hat sie beschlossen, eine neue Mia zu werden. Eine, die ehrlich ist, auch wenn es wehtut. Anderen wehtut und ihr wehtut. Mia liebt ihre kleine Tochter. Aber sie ist nicht gerne Mutter. Das weiß sie jetzt. Sie hätte gerne manchmal mehr Zeit für sich selbst. Und weniger Verantwortung. Sie hätte gerne jemanden, der ihr hilft. Der Vater ihrer Tochter hat ihr gesagt, dass sie es nicht schaffen werden. Er war dagegen, das Kind zu bekommen. Mia ist stur geblieben. Auch nach der Trennung. Sie wollte es schaffen. Sie wollte alles haben. Schon allein aus Trotz ihm gegenüber. Sie wollte 24 Stunden erreichbar sein, sie wollte sieben Tage die Woche arbeiten. Um zu beweisen, dass sich nichts verändert hat, nur weil sie Mutter geworden ist. „Ich hab gedacht, ich bin unbesiegbar“, sagt sie. „Aber ich bin es nicht.“ Mias Mutter ist vorübergehend zu ihr gezogen. Sie bringt sie manchmal abends ins Bett. Sie macht mit ihr und der Kleinen Spaziergänge. Sie lässt sie auch manchmal allein mit sich sein.

Mia macht eine Pause. Sie bleibt neben dem Schaufenster eines Hutgeschäfts stehen. Es ist ein altehrwürdiges Familiengeschäft mit einer etwas altmodischen Auslage. So etwas hätte sie auch gerne gegründet. Und ihrer Tochter weitergegeben. Etwas, was Erfolg hat. Und Bestand. Sie weiß nicht, ob das die Agentur sein kann. Oder ob es etwas anderes wird. „Jetzt kommt erst einmal Weihnachten“, sagt sie. Und lächelt zum ersten Mal.

(In: NZZ.at, 6.12.2015)

 

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